Einführung
"Quartiere [sollten] als mögliche Experimentierfelder für innovative Ansätze in allen Bereichen der Stadtentwicklung betrachtet werden"
Neue Leipzig-Charta, S.4
Wandel? Vor Ort!
Die 2007 verabschiedete Leipzig-Charta beeinflusste in den Folgejahren die Stadtentwicklungspolitik maßgeblich. Die Botschaft: Eine nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung voranbringen. Mit der integrierten Stadtentwicklung fokussieren sich nun auch Handlungsansätze aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich stärker auf die Quartiersebene. In der Neuen Leipzig-Charta aus dem Jahr 2020 werden Quartiere schließlich als Experimentierfelder “für innovative Ansätze in allen Bereichen der Stadtentwicklung” betrachtet (vgl. BMWSB 2020, S. 4). In Hinblick auf eine kommunale Bildungslandschaft mit BNE-Fokus stellt sich daher die Frage, welche Relevanz BNE auf Quartiersebene haben kann?
Ein Quartier kann sich auf einen gefühlten Raum beziehen oder durch offizielle Gemarkungen abgegrenzt sein, wie es z.B. bei einem Stadtteil der Fall ist (vgl. Neppl/Becker/Burgbacher,2016). Der Begriff bezeichnet im ersten Fall dann eine Einheit, die zumeist unterhalb administrativer Stadtviertel (-bezirke, -teile) liegt und von Bürger:innen als überschaubarer Lebens- und Nachbarschaftsraum wahrgenommen und belebt wird.
Bewohner:innen streben in der Regel nach einer hohen Lebensqualität, wofür ein Quartier wichtige Rahmenbedingungen bietet. Dieses Streben kann auch Ausgangspunkt für gemeinschaftliche Aktivitäten sein, die wiederum die Lebensqualität erhöhen – und somit quasi als Katalysator für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) fungieren. Doch welche BNE-Inhalte eignen sich dafür? Wie lässt sich die lokale Bevölkerung dafür gut im Sinne einer BNE einbinden? Und welche Orte sind Möglichkeitsräume für eine quartiersbezogene BNE?
Im Folgenden möchten wir kommunalen Praktiker:innen anhand von vielen Beispielen aufzeigen, welche Ansatz- und Ausgangspunkte im Quartier für BNE nutzbar gemacht werden können.
Ausgangs- und Ansatzpunkte für eine BNE im Quartier
Für BNE im Quartier sind verschiedene Ausgangs- und Ansatzpunkte entscheidend, die sich in eine inhaltliche, partizipative und ortsgebundene Ebene unterteilen lassen.
Inhaltliche Ebene
Die inhaltliche Ebene der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im Quartier richtet sich stark an den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz: SDGs) und den wesentlichen Nachhaltigkeitsdimensionen (ökologisch, ökonomisch und sozial) aus. Sie bietet Raum, globale Herausforderungen wie Klimawandel und Ressourcenknappheit durch lokale Bildungsinitiativen greifbar zu machen (vgl. Rieckmann, 2017). Solche Ansätze fördern das Bewusstsein für nachhaltige Lebensweisen und unterstützen so die SDG-Umsetzung auf Quartiersebene.
Einen anderen Vorschlag zur Gliederung von Projekten zeigt das baden-württembergische Landesprogramm “Quartier 2030” auf, bei welchem Projekte unterschiedlichen Handlungsfeldern zugeordnet sind.
Urban Gardening Projekte
In Gemeinschaftsgärten in den Quartieren arbeiten die Anwohner:innen zusammen, um Grünflächen zu gestalten und zu pflegen. Die Integration von Grün- und Wasserflächen in den öffentlichen Raum ist für Bewohner:innen eines Quartiers wichtig, denn diese wirken sich auf Nachhaltigkeits- und gesundheitliche Aspekte aus. (vgl. Hunecke, 2022, S.199 ff.) Manche Kommunen bieten z.B. “mobiles Stadtgrün" an, das für bestimmte Zeiträume in Straßen oder auf Plätzen aufgestellt werden kann. Urban Gardening fördert nicht nur die ökologische Bildung, sondern auch den Austausch und die Vernetzung innerhalb der Nachbarschaft sowie die Beschäftigung mit den Themen Ernährung und Gesundheit.
Dortmund unterstützt das gemeinschaftliche Gärtnern zur Produktion von Lebensmitteln und Nutzpflanzen im Sinne der "Essbaren Stadt". Zuschüsse in Höhe von 90 Prozent der Kosten für die Anschaffung von Pflanzen, Saatgut, Regentonnen oder Gartengeräten sind möglich.
Nachhaltigkeits-Hubs
Einige Städte richten spezielle „Nachhaltigkeitshubs“ ein, die als zentrale Orte für Bildungsinitiativen dienen. Diese Hubs bieten Workshops zu Themen wie Recycling, Müllvermeidung, erneuerbare Energien, Klimaschutz, Citizen Sciences, oder nachhaltigem Konsum an und sind gut erreichbar für die Bewohner:innen eines Quartiers.
Der Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft im Karlsruher "Quartier Zukunft" ist ein innovativer Hub, der Raum für nachhaltige Start-ups, Forschungsprojekte und Bürger:innen-Initiativen bietet. Der Hub fördert die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Stadt Karlsruhe stellt finanzielle Mittel und Räumlichkeiten bereit und unterstützt die Organisation durch strategische Beratung. Zudem ist der Hub Teil des kommunalen Klimaschutzplans.
Partizipative Ebene
Die partizipative Ebene setzt auf die aktive Einbindung der Bewohner:innen, um deren Engagement und Identifikation mit dem Quartier zu fördern. Empowerment und Partizipation gehen Hand in Hand, wenn Bürger:innen sich vor Ort beteiligen (Vgl. Offenheit in partizipativen Prozessen). Neben den formellen Beteiligungsformaten, wie beispielsweise Schulbauplanung, spielen dabei informelle Beteiligungsprozesse in Quartieren eine entscheidende Rolle (vgl. Hunecke, 2022, S.202 ff.). Hier bieten sich Formate an, die z.B. bei Zukunftswerkstätten Ideen und Lösungen für quartiersbezogene Themen zusammentragen. Von der nächsthöheren Ebene, der Stadtbezirksebene, können Mittel zur Verfügung gestellt werden, um lokale Projekte zu realisieren. Dass diese Mittel zur Verfügung stehen, ist wiederum eine Entscheidung der Kommune.
Nachbarschaftsräte
In einigen Städten werden Bürger:innen über Nachbarschaftsräte direkt in die Planung und Umsetzung von Maßnahmen eingebunden. Diese Gremien diskutieren und entscheiden gemeinsam über Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität im Quartier, etwa zur Begrünung oder zur Gestaltung von Spielplätzen.
In Leipzig gibt es verschiedene Stadtteilkonferenzen und Quartiersräte, die durch die Stadtverwaltung organisiert und unterstützt werden. Diese Gremien dienen der Bürgerbeteiligung auf Stadtteilebene. Sie ermöglichen den Bürger:innen, ihre Anliegen direkt mit der Stadtverwaltung zu besprechen, Probleme zu adressieren und an der Entwicklung ihres Stadtteils mitzuwirken.
Beteiligungs-Plattformen
Beteiligungs-Plattformen ermöglichen Bürger:innen, aktiv an nachhaltigen Projekten und Entscheidungen teilzunehmen, wodurch sie ein Bewusstsein für die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung fördern. Dies sind digitale Tools wie Online-Plattformen oder Apps, über die Anwohner:innen Vorschläge für Projekte einreichen, Abstimmungen durchführen oder sich über lokale Projekte informieren können. Dies fördert niedrigschwellige Beteiligung, auch für diejenigen, die an physischen Treffen nicht teilnehmen können.
Die Stadt Nürnberg nutzt ihre digitale Plattform, um Bürger:innen unter anderem in das Thema „Nürnberg klimaneutral gestalten“ einzubeziehen. Die zentrale Plattform kann auch für stadtteilbezogene Projekte genutzt werden, um Bürger:innen online mit einzubinden.
Ortsbezogene Ebene
Schließlich schafft die ortsbezogene Ebene konkrete Begegnungsstätten, die als nachhaltige Lern- bzw. Bildungsorte fungieren. In erster Linie sind das oft „klassische“ Bildungseinrichtungen der formalen und non-formalen Bildung wie Schulen, Kitas, Vereine oder Jugendzentren. Dies kann im Kontext einer BNE beispielsweise für den Ganztag als kommunale Herausforderung und der damit verbundenen Öffnung von Bildungsorten eine elementare Rolle spielen.
Viele Kommunen verfügen darüber hinaus auch über Nachbarschaftstreffs oder vergleichbare Einrichtungen, in denen informelle Lernprozesse stattfinden. Diese zeichnen sich durch einen konkreten Ort aus, der in der Regel von Bürger:innen und Initiativen bespielt und für Veranstaltungen genutzt werden kann. Diese können wiederum Ausgangspunkt weiterer, kleinteiliger Bildungsaktivitäten im Quartier sein.
Tausch- oder Reparaturcafés
An zentralen Orten im Quartier können regelmäßige Veranstaltungen stattfinden, bei denen Bewohner kaputte Gegenstände reparieren oder Dinge tauschen. Diese fördern nachhaltigen Konsum und bieten einen Raum, um in einem informellen Rahmen Wissen über Nachhaltigkeit zu teilen.
In Köln gibt es das „Repair Café Nippes“, das als Teil eines Netzwerks von Kölner Reparaturcafés regelmäßig Treffen zum gemeinsamen Reparieren anbietet. Die Stadt Köln unterstützt das Projekt als Teil ihrer Abfallvermeidungsstrategie durch die Bereitstellung von Räumen und Material. Die Abfallwirtschaftsbetriebe Köln arbeiten eng mit den Repair Cafés zusammen und bieten zudem finanzielle Unterstützung und organisieren Informationsveranstaltungen.
Temporäre Aktionsräume
Dies sind Veranstaltungen wie "Autofreie Tage" oder "Pop-up-Plätze", bei denen temporär Straßenräume oder leerstehende Gebäude zu Begegnungsorten umgestaltet werden. Hier können Workshops, Diskussionen und gemeinschaftliche Aktivitäten stattfinden, die auf die Bedürfnisse und Wünsche der Bürger:innen eingehen.
Im Landkreis Görlitz in Sachsen gibt es das Projekt „Küfa“ (Küche für alle), bei dem leerstehende Gebäude in der Kreisstadt Görlitz als temporäre Treffpunkte für die Gemeinschaft genutzt werden. Dort finden Veranstaltungen, Workshops und gemeinschaftliches Kochen statt. Der Landkreis Görlitz unterstützt das Projekt im Rahmen des Strukturwandels und der kulturellen Belebung der Region. Es gibt Beratungsangebote und Fördermittel für Initiativen, die temporäre Nutzungen anstreben.
Fazit: BNE zieht Kreise über das Quartier hinaus
"Städte sollten integrierte und nachhaltige Stadtentwicklungskonzepte erstellen und deren Umsetzung im gesamtstädtischen Kontext gewährleisten; in ihren funktional zusammenhängenden Räumen genauso wie in ihren Stadtquartieren."
Neue Leipzig-Charta, S.8
In Anlehnung an die Prinzipien guter Stadtentwicklung empfiehlt die Neue Leipzig-Charta einen integrierten Ansatz, in dem die Stadtentwicklungspolitik räumlich, sektoral und zeitlich koordiniert wird (vgl. BMWSB 2020, S.7ff). Für BNE spielen in diesem Kontext insbesondere die drei dargestellten Ebenen von Inhalt, Partizipation und der Ortsbezogenheit eine bedeutende Rolle: Die lokale Bevölkerung wird aktiv eingebunden. Partizipationsmöglichkeiten werden bewusst hergestellt und im öffentlichen Raum Bildungsorte geschaffen. Diese wiederum werden mit spezifischen Inhalten bespielt, die der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitsdimension Rechnung tragen.
Für Praktiker:innen aus der kommunalen Verwaltung empfiehlt es sich, zunächst lokale Initiativen zu identifizieren und gezielt zu vernetzen, um bestehende Ressourcen für eine BNE zu bündeln. Die Bereitstellung von Fördermitteln und leicht zugänglichen Räumen, z.B. für Nachhaltigkeits-Hubs oder Gemeinschaftsgärten, kann wichtige Impulse setzen. Zudem sollte die Verwaltung niedrigschwellige Beteiligungsformate wie Online-Plattformen und Nachbarschaftsräte fördern, um die Partizipation möglichst vieler Bürger:innen zu ermöglichen.
Tipp:
Praktiker:innen aus der Verwaltung sowie aus lokalen Initiativen können dazu u.a. auf die Suprastadt-Toolbox zurückgreifen, die Anleitungen zum Selbermachen bietet - vom gemeinschaftlichen Gärtnern im Quartier über den Rad-Check bis hin zur Klimanachbarschaft.
Mit einer kontinuierlichen strategischen Begleitung und der Integration der BNE-Maßnahmen in kommunale Entwicklungspläne entsprechen kommunale Praktiker:innen dem Wunsch, die Nachhaltigkeit solcher Initiativen langfristig zu stärken. Um dies zu erreichen, können Kommunen entsprechende Strategien bzw. Zieldefinitionen schreiben, die BNE im Quartier als Handlungsfeld und Aufgabe haben. Dies dient der strukturellen Verankerung von BNE im Quartier und stärkt und fördert die beteiligte Akteurslandschaft. So kann es sinnvoll sein, in einem Quartier mit einem BNE-Ansatz zu beginnen und Erkenntnisse daraus auf andere Quartiere oder die städtische bzw. Kreis-Ebene zu übertragen. Lokale Ausgangspunkte für BNE können dann weitere Kreise ziehen, die über das Quartier hinausgehen und so Teil der kommunalen Bildungslandschaft mit BNE-Fokus werden.
Literatur
BMWSB (2020): Neue Leipzig-Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl, Berlin, abrufbar unter: https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/Webs/BMWSB/DE/veroeffentlichungen/wohnen/neue-leipzig-charta-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (02.01.2025)
Climate Outreach (2016): Climate Visuals. Seven principles for visual climate change communication (based on international social research), abrufbar unter: https://climateoutreach.org/download/18434/?tmstv=1731403175 (12.11.2024)
Hunecke, M. (2022): Psychologie der Nachhaltigkeit. Vom Nachhaltigkeitsmarketing zur sozial-ökologischen Transformation, München
Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung (Hrsg.) (2017): Nationaler Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung. Der deutsche Beitrag zum UNESCO-Weltaktionsprogramm, Berlin, abrufbar unter:
https://www.unesco.de/sites/default/files/2020-04/Nationaler_Aktionsplan_Bildung_f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung_2017.pdf (13.11.2024)
Neppl, M./Becker, S./Burgbacher, M. (2016). Was ist ein Quartier? Quartiersforschung in Ettlingen (Semesterprojekt, Wintersemester 2015/2016). Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, abrufbar unter: https://stqp.iesl.kit.edu/downloads/Was_ist_ein_Quartier.pdf (15.11.2024)
Rieckmann, M. (2017): Education for Sustainable Development Goals: Learning Objectives. UNESCO, Paris, abrufbar unter: https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-08/unesco_education_for_sustainable_development_goals.pdf (13.11.2024)
Weitere Links
Projekte
Projekt „Küfa“ (Küche für alle), Landkreis Görlitz: https://www.rabryka.eu/projekte/detail/9-Kufa-Kuche-fur-alle
https://gemeinschaftswerk-nachhaltigkeit.de/app/organisations/1750
Quartiersrat Grünau, Leipzig:www.qm-gruenau.de/quartiersrat-gruenau/
Plattform „Onlinebeteiligung Nürnberg“: https://onlinebeteiligung.nuernberg.de/
Essbare Stadt, Dortmund: https://www.dortmund.de/themen/foerderungen/querbeet-dortmund/
Quartier Zukunft, Karlsruhe:https://www.quartierzukunft.de/ideas/zukunftsraum-fuer-nachhaltigkeit-und-wissenschaft/
Programme und Methoden
Landesprogramm “Quartier 2030”: https://www.quartier2030-bw.de/handlungsfelder/handlungsfelder.html
Supra-Stadt Toolbox: https://www.ifeu.de/fileadmin/uploads/Publikationen/Energie/Suprastadt/SuPraStadt-Toolbox_AZS_gesamt_interaktiv.pdf
Text als PDF zum Download
